Kovács Ede Márton
Geographer from Transylvania, now living in Vienna
Der alte Kontinent steht vor einer der größten Herausforderungen der Neuzeit. Als Verbündeter der USA hat Europa indirekt mit dazu beigetragen den Nahen Osten zu destabilisieren. Als geopolitische Grenze der westlichen Zivilisation bekommt Europa allerdings die Konsequenzen dieses, seit Jahrzehnten dauernden Prozesses, zur Gänze zu spüren: Flucht und Migration.
Und Europa ist tief gespalten. Verwerfungen innerhalb der europäischen Union, die in Zeiten von Wachstum und Stabilität nicht zum Vorschein kommen, treten nun massiv in den Vordergrund. Wie schon im Ukrainekonflikt ergeben sich Interessensblöcke, die eine gesamteuropäische Strategie zu Herausforderungen und Problemen unmöglich machen. Finanzkrise, Griechenland-„Rettung“, Ukrainekonflikt und die neue Völkerwanderung sind nur einige Schlagwörter, die auf schnelle, wirkungsvolle und vor allem europäische Lösungen warten.
Dabei sprechen die Regierungen Ostmitteleuropas, nämlich die Staaten der V4 eine andere Sprache, als die Westeuropäischen. Während man in Ostmitteleuropa auf die Einhaltung der Dublin III bzw. Schengen Verordnungen in Bezug auf die Flüchtlingskrise pocht, ist die Einhaltung dieser in Westmitteleuropa von der jeweiligen Situation abhängig.
Beispielsweise ist es scheinbar in Ordnung die Grenze Österreichs und Deutschlands für Migrations- und Flüchtlingsströme aufgrund von „Notsituationen“ kurzzeitig zu öffnen und im selben Satz Erwartungen an Staaten der Schengen-Außengrenze zu richten, diese zu schützen. Diese Haltung stellte nicht nur Ungarn und ihre Politik bloß, sondern stellt die EU als Regelwerk und Institution in Frage. Der Vorwurf der „Inkonsistenz“ in Bezug auf die Einhaltung von europäischem Recht hält in dieser Situation durchaus einer Prüfung Stand.
Es ist klar, wer Hilfe bedarf soll und muss sie auch bekommen. Andererseits muss es eine Distinktion zwischen Hilfsbedürftigen und Wirtschaftsmigranten geben, da viele Millionen derzeit unterwegs sind und nicht alle einen Asylstatus anerkannt bekommen können. Das erste Statement dazu gab es nach den Anschlägen gegen die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“, zu dessen Anlass der in westlichen Medien umstrittene ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán vor Wirtschaftsmigration gewarnt hat und dafür sehr viel Kritik geerntet hat. Heute, im September 2015 scheint die Warnung angekommen zu sein, auch wenn dies nur unterschwellig zugegeben wird.
Wie allerdings die Situation in Callais, in einigen Teilen Deutschlands, dem Ostbahnhof „Keleti“ von Budapest und der ungarisch-serbischen Grenze offenkundig zeigen, sind es einzelstaatliche Maßnahmen, die mangels europäischer Gesamtstrategie angewandt werden, um die Flüchtlingskrise in geordneten Bahnen verlaufen zu lassen.
Europa pocht auf eine Quotenregelung, ohne dezidierten Schutz der Schengen-Grenzen und plant keinen Sondergipfel zur Verteilung der Aufgaben, sondern will die Thematik erst Mitte Oktober beim regulären Gipfel der Staats- und Regierungschefs beraten, so EU-Ratspräsident Donald Tusk.
Sicherheitsexperten, wie György Nógrády warnen indes davor, zu viel Zeit verstreichen zu lassen, denn Österreichs Grenzen sind bald wieder geschlossen, die nächste Welle an Flüchtlingen wartet allerdings schon im Ostbahnhof von Budapest bzw. auf dem Balkan.
Für die ungarische Regierung, die klar überfordert den Sündenbockstatus übernimmt und den europäischen Führungspersönlichkeiten einen Spiegel vorhält, wird die Lösung dieser Aufgabe zum Verhängnis, sollten die selbst gesetzten Maßnahmen, siehe Grenzzaun und verschärfte Gesetze, nicht greifen bzw. keine europäischen Lösungen durchgesetzt werden können.
Die andere Seite der Medaille bleibt natürlich ebenso schicksalshaft: Die Beziehungen zu Österreich und zu Deutschland sind eben wegen der Flüchtlingsfrage auf einem Tiefpunkt angelangt. Ministerpräsident Orbán wurde sogar vom österreichischen Kanzler Faymann der Lüge über die tatsächliche Anzahl an Flüchtlingen, die in Richtung österreichische Grenze marschieren, bezichtigt.
Es zeigt den Kommunikationsspielraum einer Regierung, die Alternativen bieten will, dies allein nicht schafft und dessen Kommunikationsfähigkeit, was die Abstimmung weiterer Schritte mit den Nachbarländern betrifft, zu akkordieren nicht im Stande ist.
Auf lange Sicht ist dieser Zustand definitiv nicht haltbar. Aus diesem Grund ist es unumgänglich, dass erstens der Schutz der Schengen – Außengrenze gewährleistet wird bzw. danach weitere gesamteuropäische Schritte für eine für alle Parteien vertretbaren Quotenregelung getroffen werden können. Solidarität muss im Friedensprojekt EU möglich sein und darf nicht gleichgesetzt werden mit Selbstaufgabe. Denn, wie Orbán treffend gesagt hat, „wer überrannt wird, kann nicht helfen.“
Die grundsätzliche Frage, die sich stellt lautet: Ist Europa bereit einen Ansturm diesen Ausmaßes aufzunehmen oder wird sie die Grenzen dicht machen und damit als letzten Kontinent ein Zeichen dafür setzen, rechtsstaatlichen Grundsätzen zu unterliegen und pragmatisch handeln zu können. Das beinhaltet die Regelung der Ströme hin zu den regulären Grenzübergängen und die dadurch mögliche Unterscheidung zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten. Eines steht jedoch fest, die Flüchtlinge kommen und werden dies auch noch lange Zeit tun.
Vienna, 06.09.2015